„Im Zuge der Zeit“
Seit den frühen 90er Jahren schafft der 1961 in Südlohn in Westfalen geborene Künstler Mathias Lanfer Kunststoffplastiken. Seine blutroten oder tannengrünen Gebilde liegen sockellos auf dem Boden. Dickbäuchig gleichen die neueren Arbeiten schwerfälligen Gefäßgerippen, die wie zufällig abgestellt und auf die Seite gekippt sind. Auf den ersten Blick wirken Lanfers Plastiken unspektakulär. Doch irritieren ihre glänzend farbigen Oberflächen: Sie verleihen den Stücken die Makellosigkeit eben lackierten Gerätes. Ganz offenbar interessiert den Künstler das Neue mehr als das Vergangene. Im „off“ scheinen seine Plastiken noch unbekannter Verwendung entgegen zu sehen.
Mathias Lanfer betreibt keine Industriearchäologie. Er klagt nicht den Überfluß an, der im Abfall endet – wie etwa die Assemblagen aus Kunststoffstrandgut, die Tony Cragg spielerisch zusammenführt, oder die „Trash Stones“ seines Kollegen Wilhelm Mundt – vielmehr greift Lanfer zu technischen Verfahren im Umgang mit Kunststoffmaterialien, die sich dem Fortschritt anpassen, statt ihm im Weg zu stehen. In seinen Plastiken verfängt sich Zukunft wie in einer Reuse aus Zeit.
Lanfers plastische Gebilde bewegen sich im Vorbegrifflichen: Es gibt metaphorische Annäherungen, – sie erinnern an Stalaktiten, Lava, Früchte oder utopische Maschinen. Exakte Bezeichnungen können nur auf das Material reflektieren, nicht auf ihre Form. Marcel Duchamp hat einmal gesagt, Titel legten sich um Kunstwerke wie unsichtbare Farbe. In einer Tradition der Moderne, die in der Benennung meist nur noch das Sichtbare nennt, numeriert Lanfer seine Arbeiten und bezeichnet sie nach ihrem Grundstoff: „Thermoplaste“. Dem Künstler scheint es wichtiger zu sein, auf die Materialeigenschaften hinzuweisen, aus denen im Arbeitsprozeß Form wächst, als das plastische Ergebnis mit einem assoziativen Titel zu überhöhen.
Lanfers plastische Gebilde bewegen sich auf der dynamischen Schwelle der Gegenwart. Im Gewand einer knallbunten Warenwelt halten sie alles im Fluß. Dabei stellt Lanfer Bewegung nicht dar, sondern materialisiert sie, indem er in geduldiger Prozedur plastische Ereignisse festhält, die jederzeit umkehrbar bleiben. Das farbig durchtränkte Kunststoffmaterial verflüssigt sich bereits bei 100 Grad Celsius. Sobald die abgekühlten Formteile wieder erwärmt würden, würden sie ihren flüssigen Ausgangszustand zurückgewinnen und könnten an anderer Stelle erneut in den Kreislauf des Lebens eingehen. In ähnlicher Weise wie sein englischer Kollege Mark Quinn oder der Japaner Tadashi Kawamata, schafft Lanfer somit Plastiken, deren betont transitorische Eigenschaften als Angebot zum Weiterdenken, nicht aber als Lösungen begriffen werden wollen.
Lanfers plastische Gebilde basieren auf einem dialektischen Prinzip, das Fallen bereithält. So sind seine Arbeiten nicht, was sie zu sein scheinen: Sie sind konstruiert und doch durch Zufall gestaltet. Sie sind zugleich Technik und Natur. Sie sind leicht und transparent, schwer und behäbig. Sie verdrängen Volumen und sind doch offen und durchlässig. Sie wirken hart wie Metall und sind doch fast so weich wie Wachs.
Um die Grundkonzeption seiner Arbeiten zu entwickeln kooperiert Mathias Lanfer mit der Metallindustrie. Als gelernter Konstruktionszeichner für den Schweißvorrichtungsbau, skizziert er zunächst mit elektronischen Mitteln dreidimensionale Konstrukte. Am Bildschirm werden Form und Anzahl jener Stahlstäbe festgelegt, die später als Gerippe seiner Plastiken deren Silhouette bestimmen. Roboter knicken die Stäbe in Serie. Über kreisrunden Stahlringen werden sie danach zu offenen Käfigen zusammengefügt und von einer Krahnwinde aus in ein warmes Gemisch aus Polyäthylen und Wachs getaucht. Bevor der Kunststoff abbindet, bildet er Fließspuren, die sich wie Schlieren um die Stahlgerippe legen und die Abstände der Stäbe hier und da zuwuchern lassen.
Mit künstlichen Mitteln aber unter den natürlichen Bedingungen der Schwerkraft, erzeugt Mathias Lanfer Materialstrukturen, die dem Übergang verschiedener Aggregatzustände Sichtbarkeit ver-schaffen. Parallel zu Vorgängen, die sich in der Natur in Jahrtausenden abspielen oder wegen ihrer Flüchtigkeit kaum darstellbar sind, beschreitet Lanfer einen dritten Pfad. Dabei nutzt er sowohl die Erkentnisse der Naturwissenschaft, als auch die Möglichkeiten neuster Materialien und Technologien.
Mathias Lanfer bewegt sich gedanklich auf den Spuren der russischen Konstruktivisten.Naum Gabo und Antoine Pevsner hatten 1920 bereits in ihrem Realistischen Manifest eine Plastik gefordert, die sich der eigenen Zeit im Bekenntnis zu einem modernen Werkstoff stellt, die sich dem Raum öffnet, statt Volumen vorzutäuschen und die sich „kinetischen Rhythmen, als Grundform unserer Wahrnehmung der realen Zeit“ hingibt. Dieses prozessuale Denken fand nach 1945 auch Eingang in die deutsche Plastik: Brigitte und Martin Matschinsky-Denninghoff gelangen Mitte der 50er Jahre plastische Formulierungen in Stahl und Blei, die, wie im Abriß der Zeit, Natur und Technik in stalaktitenähnlichen Gebilden zusammenführten. Hans Uhlmann zeichnete zur selben Zeit mit Draht Bewegungsspuren in den Raum, die dem Flug von Insekten oder dem virtuosen Klang von Musik entsprachen. Dabei löste Uhlmann nicht nur Volumen zu Gitterstrukturen auf, er unterstrich zudem die innere Dynamik seiner plastischen Aussage durch gezielt eingesetzte Farbe. Ab1947 tauchte er Eisendrahtplastiken in rote Farbbäder.
In den Plastiken Mathias Lanfers wird Farbe nicht als graphische Linie in die Luft gezeichnet, sondern wie mit dem satten Pinsel vernehmlich in den Raum gesetzt. Wie bei Uhlmann gilt ihm Farbe aber als optischer Geschwindigkeitsmodulator. Dabei setzen Lanfers Farbspuren Seherfahrungen der Pop Art, durchaus aber auch des Comic-strip voraus.
Durch seinen Lehrer Tony Cragg steht Lanfer auch in der Tradition englischer Bildhauerei: Wie Henry Moore sind ihm haptische Eigenschaften, – etwa das Abgeschliffene einer vergehenden Natur -wichtig. Wie Kenneth Armitage und Lynn Chadwick visualisiert er unsichtbare Bewegungsprozesse in der Natur. Wie Tony Cragg spielt er mit Balusterformen, die sich ein- und ausstülpen und kreiselnd zur Ruhe kommen. Wie Richard Deacon konstruiert er Raumgerippe, die er in Reihen auslegt, was einerseits an prähistorische Tierskelette, andererseits aber an davondüsende Ufos erinnert.
Doch gelingt es Mathias Lanfer bei alledem der Tradition eigene Aspekte hinzuzufügen. So haftet seinen plastischen Gebilden eine artifizielle Farbigkeit und zugleich organisch-ausfingernde Grundstruktur an, die ihnen utopisch-fremdartigen Charakter verleiht. Fast lautmalerisch enthalten seine neueren Arbeiten aus grün durchtränktem Kunststoff eine Sprengkraft, die sich in den früheren, roten Stücken bereits explosiv verausgabt zu haben scheint.
Mathias Lanfer arbeitet in einem Atelier unweit von Düsseldorf, das ehemals als Gewächshaus diente. Auf dem Feld zeitgenössischer deutscher Plastik gedeiht seine Kunst inzwischen im Licht der Öffentlichkeit. Im Bewußtsein plastischer Traditionen unseres Jahrhunderts, wagt er sich auf den Boden neuer Technologien und bewegt sich damit entschieden in Richtung Zukunft.
Katja Blomberg