Dirk Tölke

„DROP SCULPTURES“

TAUCHGÄNGE IN EINE MORPHOGENETISCHE ZWISCHENWELT

Mathias Lanfer erweitert den Begriff der Plas­tik und des Plastiks. Er arbeitet mit Kunst­stoffen und Metallen an der Schnittstelle zwischen individueller und industrieller Be­arbeitung und an der zwischen digitaler und materieller Bildhauerei. Nicht der Meißel, der Hammer, die Skizze und das Tonmodell sind seine Handwerkszeuge, sondern industrielle Verfahrensweisen wie Schmieden, Gießen, Pressen, Tauchen und Tools, die ihm als Formvorlage das in einem Bewegungslauf eingefrorene technische Bild als Sequenz­skizze in die Hände spielen. Die Individuelle Handschrift ist dabei im Sinne eines Pinsel­duktus oder einer Bearbeitungsspur nicht mehr greifbar, sondern der Bearbeitungsmo­dus selbst als Gestaltungsvorgang stellt die individuelle Sicht und Leistung dar, in der vor allem Motive der Bewegung und des Wachs­tums im Vordergrund stehen.

Ihn interessieren die Übergänge und die Zwi­schenformen, die bei plastischen Verformun­gen und Bildungen von Volumina entstehen und mit bloßen Augen nicht erkennbar sind, die aber durch von ihm angewendete Verfah­renskniffe, Programme und technische Hilfs­mittel auslotbar werden (Infrarotwärmescan, Computertomogramm, Hochgeschwindig­keitskamera, Morphing-Programme, interak­tive Panoramaphotographie). Diese existente, aber flüchtige Interrealität in Wachstums- Ma­terialisations- und Bewegungsverläufen, auch zwischen technischer Form und Naturform, sucht und erkundet er auf ihre Qualitäten als ästhetische Wirksphäre. Mehr am Prozess, als am Erzielen eines Formkörpers interessiert, sind seine Plastiken Zwischenergebnisse und gefrorene Momente in einem fortlaufenden Prozess, dessen ergiebigste Schöpfungen als Kunstformen ihren Weg in das Werkverzeich­nis von Mathias Lanfer gefunden haben.

Daher ist sein großzügig durchlichtetes Atelier in einem gewissen Sinne einem Labor ange­nähert, einem Ort, in dem ständig entwickelt wird, in dem nicht Produkte, sondern Vorgän­ge im Vordergrund stehen und die Motivati­onsbasis für kreative Gestaltung bilden. Im Atelier finden sich ständig beheizte, kokelig dünstelnde Tauchbecken mit nutzbarer Tauch­masse – Vorrichtungen, die Thomas Schüt­te einmal für seine Gespenster nutzte – und zahlreiche Modelle auf Sockeln, die von den Formerfahrungen künden, die Mathias Lanfer schon gemacht und erprobt hat. Eine Wir­kungsstätte, in der das Erlebnis der Vielfältig­keit möglich ist, weil die Wege stets haptisch und visuell reizvoll sind.

Schon Richard Serra ist mit seinen Stahlplat­ten in Dimensionen plastischer Formen vorge­stoßen, die nicht mehr von einem Künstler in einem Atelier, sondern nur noch von Fachar­beitern in Industriebetrieben und Maschinen mit hinreichendem Kraftpotential hergestellt werden können und dem Künstler die Kennt­nis gänzlich neuer Bearbeitungstechniken ab­verlangen, insbesondere seit die technische Form in der Bildhauerei akzeptabel geworden ist und in den Kunst am Bau Projekten Dimen­sionen nötig und gebräuchlich geworden sind, die den immer größer werdenden Baukom­plexen und öffentlichen Räumen eine eigene künstlerische Kraft als optischer Impuls oder als visuelles Widerlager entgegenzusetzen in der Lage sind.

Auch Mathias Lanfer sucht und nutzt seit Jahr­zehnten mit wacher Energie neue technische Verfahrensweisen im Umgang mit körperhaf­ten Voluminina. und hat sich dabei Kenntnisse jenseits traditioneller Handwerklichkeit ange­eignet ohne die Materialbasis zu verleugnen. Tätigkeiten in Kalksandsteinwerken, Alumini­umpresswerken und in der Automobilindustrie befähigen ihn heute, nicht nur wieder auf tra­ditionelle Metallbearbeitungen wie Schmieden oder Gießen zurückzugreifen, sondern ihnen neue künstlerische Impulse zu vermitteln. Die industrielle Formgebung und die ingenieurs­mäßige Praxis bei technischen Bildgebungs­verfahren selbst ist eher an Nutzungseffizienz und an Machbarkeiten interessiert und hat oft wenig Gespür für die ästhetischen Möglich­keiten, die in der Anwendung künstlerischer Strategien mit diesen Methoden liegen. Hier betritt Mathias Lanfer häufig Brach- und Neu­land, wobei ihm seine Werkstofferfahrungen für die Ermittlung der Grenzen der Umsetzbar­keit von Formideen nützliche Dienste leistet. Dennoch bleibt er mit seinem Objekten meist in menschlichen Dimensionsmaßstäben.

In den letzten 10 Jahren entfaltete sich die gestalterische Kraft von Mathias Lanfer etwa in der Umnutzung von industriellen Halbfertig­produkten. Programmierbare Drahtbiegerobo­ter dienten ihm als Lieferanten für geschmei­dige Endloswicklungen verschieden groß gesteuerter Kurvenradien, die als ineinander­gewundene Schlaufenhaufen wie in raumgrei­fenden Linien gezeichnete lebhafte Objekte wirken, die in körperhafte Wallungen gelan­gen können. Andere Formkörper entstanden aus verkröpften und verhakten Drahtbügeln, die in Kreisformationen verwoben wurden und eigenwillige technobiologische Formen bilden, die wie eine Mischung aus Anemone und Turbine wirken, ein Natur-Technik-Zwitter, der durch Acrylglaskuppeln Gerätecharakter bekommt. Ein sinnfreies, aber gewollt erschei­nendes Objekt, das durchaus im Einklang mit einem Naturumfeld wirken kann, quasi als gewachsene Technik eigenständige Präsenz fordert.

Klappbare oder stabilisierte Gittergerüste bie­ten einen weiteren Formkeim, den Mathias Lanfer dann begann, durch Füllmaterialien in einer Art schichtweisen Hohlraumversiege­lung mit einer sich massiv materialisierenden Hüllhaut bzw. Haftmasse in wachstumsäqui­valenten Schichtwucherungen zu überziehen.

Nach vielen Versuchen erwies sich ein ther­moplastischer Werkstoff als geeignet, der in Tauchverfahren Schicht für Schicht einen steuerbaren und reversiblen Materialaufbau ermöglichte. Wesentlicher Werkstoff ist hierbei teilkristallines Polypropylen, dessen Beimi­schungen in unzähligen Rezepturen erprobt wurden, damit das Material nicht durch Span­nungen cracked wie bei arbeitendem Holz. Diverse mit Papierstreifen, gar mit einer Nadel begonnene Tunkprozesse mit den typischen schwerkraftskonformen Tropfnasenbildungen sind mit diversen Farb- und Schadensbildern im Atelier verwahrt. Diese zum Objekt gewor­denen Transformationsstills sind die Keimlinge eines Formprozesses, der kein einfaches Tun­ken und Tauchen ist, sondern die Bedingungen seiner Fortentwicklung mit zu bedenken hat. Anfänglich muss der Materialsieder gut gefüllt sein, um dem temperaturbeständigen metal­lenen Kerngerippe hinreichend Tauchtiefe zu bieten. Nach mindestens 30 Tauchgängen bil­det sich ein Kernvolumen mit Anfangscharak­ter, das die Kunststoffflüssigkeit zu verdrän­gen beginnt, die nun in geringeren Mengen vorgehalten werden muss. Das Gewicht des Objektes erhöht sich und die schichtbildenden Tauchprozesse bedürfen eines Flaschenzuges und aufwändiger Drehprozesse. Denn das Material darf nicht die Wände berühren, um nicht zu verbrennen und diesbezüglich muss auch die Breitenentwicklung der Form Be­achtung finden. Die unhandlicher werdenden Strukturen und der diffizile Schaffensprozess verlangt genaue Kenntnis der Verhaltensweise und der Verfahrensreihenfolge, um die Span­nungen beim Erkalten und Erwärmen hinrei­chend im Griff zu behalten und die Formbil­dung im rechten Moment zu beenden, bzw. zu einem bestimmten Formkörper sich ausbilden zu lassen, der einem imaginierten Bild nahe­kommt oder eine spannungsreiche eigenstän­dige Form bietet.

Was an den thermoplastischen Schwerkraft­plastiken von Mathias Lanfer auffällt, ist ein gewisses Bewegungsmoment, das aus dem Abfließen des Kunststoffes beim Tauchen ent­steht und den Objekten eine leicht verzerrte, an Grannen- und Ährenbündel gemahnende Form gibt, die sich nicht in einem Guß- oder Schmiedeverfahren, etwa bei der Übertragung in Aluminium, herstellen lässt. Diese werkstoff- und herstellungsspezifische Formbildung ge­winnt ihren Geschwindigkeitsimpuls aber erst durch die Positionierung der Formkörper im rechten Winkel zur Fließrichtung.

Nach einfarbigen Serien wie „stay tuned“, „coppered drop“ oder „silver skin“ mit eigen­willigen Formen, die technoide Korpusse mit Geschwürausblühungen, Zentrifugalkraft­strukturen oder wulstigen Dellen versehen, experimentiert er unabhängig von Wilhelm Mundts ovaloiden Trashstones in den „lemon drops“ mit einer gelblichen Transparenz. Im Schichtaufbau entstandene Luftblasen deckt er durch gelbe Textilklebebandstreifen ab, die im Schichtungsprozess in die Tiefe des Ob­jektes absacken, aber sichtbar bleiben und eine Fremdkörperwirkung entfalten, die den Technobonbon zu einem Terrariumspräparat machen, das Einblicke in unbekannte Sphä­ren verspricht. Überraschende und anregende Welten auch für den entdeckenden Künstler.

 

Natürlich lösen manche der frühen Formen oberflächlich Assoziationen zu H.R. Gigers Ali­ens aus, aber dessen Biomechanoiden haben weitaus mehr Analogien zum prothetischen Verhältnis von Natur, Mensch und Technik. Ein mechanisiertes Gerüst wird dort mit bio­morpher reptilienhaft-insektoider Hülle in glei­tenden Übergängen verknüpft. Bei Mathias Lanfer jedoch geht es weniger um biologische Assoziationen und Metaphern, die das Ver­hältnis von Mensch und Maschine, von Gene­tik und Mechanik thematisieren, sondern um Formfindungprozesse mit neuen Werkstoffen und industriellen Möglichkeiten, die eine zeit­gemäße eigene Bildwelt in Auseinanderset­zung mit den technischen Formprozessen der industriellen Welt generieren. In diesem Ver­gleich zukunftsfähiger Bildwelten, der in der Science-Fiction-Termonologie stöbert, wäre Mathias Lanfer allerhöchstens ein unbedroh­licher Voluminator.

Mathias Lanfer verwendet Kunststoff, speziell das thermoplastische Polypropylen nicht als Haut oder Überzug, sondern als massives Ma­terial, das er allerdings in Schichten aufbringt, die an der Bruchkante wie Jahresringe aufge­baut sind. Obwohl es sich also um einen als künstlich verschrieenen Werkstoff handelt, ist er den selben Formgesetzen von Schwerkraft, Druck, Wichte und Gewicht ausgesetzt, wie natürliche Wachstumsprozesse. Allerdings steuert hier der Künstler und nicht die DNA die Morphogenese. Die sukzessive Schichtbil­dung von Staub, Schnee oder Holz ist meist nicht in dem verkürzten Zeitmaß zu erwirken, wie die Methodik von Mathias Lanfer es für seine Schöpfungen möglich macht.

Ganz traditionell nutzt Mathias Lanfer den Sockel zur Präsentation seiner morphogene­tischen Körper. Im Entstehungsprozess als Tauchobjekte sind sie in einer hängenden Lage positioniert. Der Sockel und insbeson­dere die fixierende Plinthe macht erst möglich, die Objekte in einer vom Künstler bestimmten Lage aufzubocken und die Beliebigkeit der Aufstellung zu unterbinden. Die Sockel sind meist so arrangiert, dass eine Betrachtung auf Augenhöhe möglich ist, die statt distanzierter Aufsichten konfrontative Einsichten verschafft. Die Objekte selbst erscheinen wie Stills in ei­nem Verlaufsprozess, der angehalten wurde. Die Sockel erleichtern dem Betrachter das Umrunden der Plastik, wobei er das Objekt wieder in einen Bewegungsfluss integriert. Der Moment der Bewegung wird also durch Mathi­as Lanfer hier in zweifacher Weise thematisiert und ist auch Leitmotiv seiner weiteren plasti­schen Werke.

Während eines Stipendium in Berlin, als nur leichte und leicht zu bearbeitende Werkstof­fe zur Verfügung standen, hat Mathias Lanfer seine Thematik in einer aus Schichtholz aufge­bauten, frei und materialuntypisch schwingen­den Schlingform bearbeitet, die rundgeschlif­fen und austariert im Raum lagert.

Das Thema Bewegung hat bei Mathias Lanfer immer auch mit Gewicht, mit Verzerrung, Ma­terialverdrängungund mit Druck zu tun.

Die im schwebenden Zustand von Druckver­hältnissen und Innenleben geprägten For­men, die Mathias Lanfer seit Jahren in seinen selbst gestalteten Tauchbäderapparaturen stabilisiert, geben einem Formkeim ein kom­paktes Beschichtungsäußeres, das als Tribut an Schwerkraft und Verdrängungstiefe dazu neigt, im unteren Bereich mehr vom Aus­gangsmaterial anzureichern, teils in belasse­nen Tropfnasen zu Fäden zu gerinnen, So wie beim Comic die Darstellung der Bewegung durch Konturwiederholung oder einen Be­gleitstrich betont und angezeigt wird, künden diese prozessimmanenten Formfindungen von der Fließrichtung des Werkstoffs und den Druckverhältnissen. In ähnlicher Weise nutzen diverse Gestalter pneumatischer Skulptu­ren den sichtbar gemachten Druck der Luft, der auf eine gespannte oder durch Befüllung versteifte Folie oder Hülle aus Textilien bzw.Kunststoffen einwirkt.

Seit 2007 befasst sich Mathias Lanfer mit Stahlrohlingen, die er in einem Schmiedewerk von Gustav Grimm in Remscheid unter Auf­sicht bearbeiten lässt. Dies ist heute im we­sentlichen ein Pressvorgang des weißglühend gemachten C45-Stahls. Ein Metallklumpen von 2 Tonnen Gewicht, der mittels eines Ma­nipulators gegriffen wird und über Stempel an einer Seite abgeflacht wird ist ihm Ausgangs­basis. Diese aus dem Rohling herausgepres­sene Fläche wird von Mathias Lanfer dann zu einem Bogenansatz ausgeschnitten, an den eine Flacheisenschlinge angeschweißt wird. In einem weiteren Verfahren werden zwei pass­genaue Plexiglaskuppelwölbungen geblasen und im weichen Zustand manipuliert, sodaß die Wölbung teilweise in Knickfalten zusam­mensinkt. Diese Hälften werden beidseitig an die Stahlschlaufe als nun starre Kunststoffbla­se verschraubt und ergeben ein milchig trü­bes optisches Gegengewicht zum Stahlklotz, der als Anker einer im Wind aufgeblähten Hohlform erscheint, die dem Konstrukt eine suggestive Leichtigkeit vermittelt und somit Gewicht und Luftigkeit vorführt, bzw. in char­manter Anmut die Zugspannungen und für die Bearbeitung eingesetzten Kräfte sichtbar macht und wieder einen Bewegungsimpetus suggeriert, wie ihn an seinem Aufstellungsort (momentan in Stade) der Wind hervorrufen könnte. Bei genauer Betrachtung erweist sich die Form aber als Substrat unterschiedlicher Prozessverläufe, die nicht einem einheitlichen Innendruckzustand erwachsen sein können, da die Schalenhälften unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen ausgehärtet sind. Hier wird die Phantasietätigkeit und die Einwirkung der gestalterische Kraft von Mathias Lanfer deutlich.

Ein Übergangselement von der Bildung ge­schlungener Formen zu digitalisierten und nun in bewegteren Medien eingefangenen Bewegungen stellt eine Reuse mit thermo­plastischer Elektroluminiszenz dar. In ei­nem Gittergeflechtzylinder drängen verdrillte Leuchtschnüre kriechend gegen die Schwer­kraft an.

Als verschiedenfarbige Schlinglineaturen um sich bewegende Personen drapiert, lassen sich mit solchen Leuchtschnüren im Dunkeln fotografierte und gefilmte Bewegungsstudien verfolgen, die Mathias Lanfer dann als wie im Schleiernebel verwackelt und überlagert er­scheinende Farbschemen und Liniendopplun­gen einfängt und damit wieder die Flüchtigkeit des Bewegungsimpulses in einem atmosphä­rischen Bild einfriert, dass sich realen Bedin­gungen verdankt, aber unter künstlerischen Wirkungsabsichten zu bewegter Grafik oder Bewegungsstills selektiert und isoliert wurde. Mit dieser erst kürzlich genutzten Methode überlagern sich wie bei den Tauchplastiken Zeitschichten von Formprozessen und kün­den vom Innenleben des Bewegungsprozes­ses. Dieses sichtbar gemachte Innenleben der Prozesse hat Mathias Lanfer schon länger über verschiedene Durchleuchtungstechniken verfolgt.

Eine frühe Arbeit „Ich bin 36,5 Grad heiß und alles was wärmer ist ….“ nutzte vor Jahrzehn­ten schon Thermoscanner zur Bildfindung für einen Bewegungsverlauf. Heute sind es Rönt­gengeräte und sogenannte Nacktscanner, die Einblick in das Innenleben seiner von Schwer­kraft und Haftkraft, von Graviation und Adhä­sion geprägten Plastiken bieten.

 

 

Slow Drop Videos

Mit neueren bildgebenden Techniken läßt sich nun dieser Bewegungsfluß in seiner Zeitdyna­mik verlangsamen, steuern und in seinen Ver­formungsstadien abspeicherbar machen.

Über Videoslowmotions thematisiert Mathias Lanfer den plastischen Prozess als Bewe­gungsverlauf. Auf der Suche nach einer Hoch­geschwindigkeitskamera ist er mit dem Handy durch Deutschland gepirscht und schließlich bei“ Jugend forscht“ in Bad Saulgau fündig geworden, die ihm an drei Tagen die Möglich­keit zur Realisierung von fast 80 Aufnahmen boten, die als skizzenartiges Formreservoir nun zum Studienmaterial geworden sind und der künstlerischen Auswertung harren.

Eine vorausschauend inszenierte Filmsequenz zeigt einen mit Wasser gefüllten Wasserballon, den Mathias Lanfer auf den Boden fallen und im Rückschwung titschen ließ. Interessant ist die wahrnehmbare Formveränderung, die das durch die Gummihülle gebändigte Wasser mit der Außenhülle veranstaltet, die in Stau­chungswölbungen, sich einziehenden Schlün­den und wellenförmig erzitterten Riffelungen der Außenhaut eine ganze Reihe von eigen­ständigen Formfindungen sichtbar macht, die ob ihrer Flüchtigkeit sonst der Wahrnehmung entzogen sind. So wie Fernrohr und Mikros­kop die Bildwelt der Menschen erweitert ha­ben, bietet die Zeitlupen- und Hochgeschwin­digkeitsfotografie seit Muybridge und Marey Einblicke in eine Zwischenwelt der Formen, in denen die übliche schwerkraftskonforme Ge­stalt mit ihren eigenen physikalischen Bedin­gungen flüchtige morphogenetische Objekte gebiert.

Aus dem im Schweben prallen Ballonsäck­chen wird beim Aufprall eine Muldenwanne mit inwendig aufsteigender Tropfnase, die die Hüllenmasse beim Aufsteigenden mit sich reißt und zu einer turbulierend

birnigen Form mit trudelnd richtungsweisen­dem Zipfel macht. Erstaunlich, wie die im Flug autonome Bewegungsrichtung der Flüssigkeit Stoßimpulse und Rotationsrichtungen sicht­bar macht, die doch unsichtbar im inneren der Ballonhülle ablaufen. Auf die Geschwindigkeit kommt es an.

Das Spiel der physikalischen Kräfte, die zum langsamen Ausgleich finden, wird an der Oberfläche und den Dehnungsformen spürbar, und bietet an den Außenflächen ein pulsieren­des Grauwertespiel mit zusätzlichen zwischen konvex und konkav schillernden Schattie­rungen. Es sind letztendlich die Naturgeset­ze, die einem amöbenhaften Formkeim ihre überschiessende Vielfalt an Hüllenformatio­nen aufzwingen. So wird die von Bewegungs­impulsen und Rotationsmustern erzwungene Formmimik als Kräftespiel in ähnlicher Weise lesbar, wie dies vom Muskelspiel des Körpers gilt, der gestische und mimische Auswirkun­gen innerer physischer und psychischer Pro­zesse sichtbar macht. Dieses Vokabular der Prozesssprache stellt Mathias Lanfer dem Betrachter zur Verfügung und sucht in diesem Sinne nach Ausdrucks-Formen der Materie, die sich in Impulsen zeigen. Eher klassisch künstlerisch erscheint dabei eine Sequenz, die zeigt, wie ein mit Farbe benetztes Schirm­gestell beim Aufklappen seine enorme Flieh­kraftentwicklung auf die Verteilung der Farb­massen überträgt.

Zeitgleich beschäftigt sich etwa auch Julia Kröpelin in Polyurethan-Plastiken mit einge­frorenen Bewegungsstudien, was auf ein all­gemeineres Interesse an dieser Slow-Motion-Bildwelt hindeutet.

Verfahrensweisen wie Stereo-Lithographie oder 3D-Printen verdeutlichen die intensiver werdende Verbindung zwischen digitalem Entwurf und geplotteter oder gelaserter oder geschäumter Ausführungspraxis.

So nimmt es nicht Wunder, dass Mathias Lan­fer im Sinne seiner Strategie der bildwirksa­men Impulskraftbannung desweiteren in einer digitalen Darstellungsform von Bewegungs­flüssen Morphing-Programme oder Slow-Mo­tion-Picturing nutzt, die seit 1985 ausgiebig in der Filmindustrie eingesetzt werden und aus zwei unterschiedlichen Ausgangsbildern oder-sequenzen Zwischenform errechnen, um eine glaubhaft suggestive Formverwandlung zu er­zeugen. Während dort etwa die Ausgangsbil­der von einem Gesicht von Mensch und Katze durch Festlegung markanter mimischer Punk­te spezifisch verzerrt werden, sind die Verzer­rungen, denen Mathias Lanfer auf der Spur ist, von der physikalischen Rahmenbedingung abhängig, die auf das Material einwirken, von Zug- und Druckkräften, von Gewicht, Wich­te und Schwere, von Zähflüssigkeit und Vis­kosität, von Adhäsion und Kohäsion, die die Grenzen formulieren, die Materie zusammen­hält. Seine Transformationsvisionen suchen eigentlich nach einem offenen Morphen ohne festgelegtes Zielbild.

Beim Morphen muss sich das Bild in jedem Fall bewegen. Die optische Abstraktionsleis­tung der Reduzierung des Wahrgenommenen auf als Wesentlich erachtetes, die im klassi­schen Falle eine Skizze oder Zeichnung bietet und darstellt, wird hier durch die Steuerung der Programme geleistet, die unterschiedlich viele und scharfe Zwischenstufen des Mor­phings liefert und variable Lösungen für den Ausdruck des Unverzichtbaren ermöglicht.

Auf seiner Entdeckungsreise in die Zwischen­welt der Formen hat Mathias Lanfer kürzlich die interaktive Panoramaphotographie ent­deckt, die aus 4 kreisförmig aufgebauten 18mm-Objektiven Ansichten erzeugt, die ihre Vollständigkeitswirkung der nicht mehr wirklichkeitsgetreuen Berechnung von Zwi­schenwerten an den Stoßkanten verdankt. Allerdings ist es wieder möglich, in diesem Ausgangsmaterial mit speziellen Programmen selbst gesteuerte Fahrten durch das Bildma­terial zu machen, die als Erkundungskommen­tare so spannend sind, wie die Erforschung von Tiefsee und anderen Planeten. Zudem lassen sie sich in künstlerlischer Weise mit at­mosphärischer Wirkung und sogar mit Musik und rhythmischen Strukturen koppeln, wie sie heute VJs (Videojockeys) über Ton-Bild-Syn­chronisationsprogramme nutzen.

Das bietet neue Bildwelten, die bei Mathias Lanfer 2010 in den „Slow Drop Carpets“ fixier­te Gestalt gewonnen haben. Dabei verknüpft er kleine 12-15 sekündige Videosequenzen aus bis zu 3000 Bildern über Spiegelungen und Reihung zu einem Teppich, der einen sich sehr langsam lebendig bewegenden Flor aus ornamental wirkenden Strukturen bildet, der zwischen Platine und amorpher Struktur ve­xiert. Keine starre Skizze mehr, sondern eine bewegte Formstudie, die das Formenreper­toire erweitert und durch Kopplung mehrerer sich berührender und verformender Struktu­ren noch bereichert werden kann.

Es geht Mathias Lanfer um die Bereicherung der Formenwelt, nicht um Formzertrümme­rung oder -reduzierung, nicht um organischen oder technische Formen, auch nicht um Pro­portionen oder rhythmische Strukturen an sich, sondern um die Sichtbarmachung nicht sichtbarer, vergänglicher Prozesse, um einen bildhauerischen Formprozess, der nicht bei virtueller Wahrnehmung und Gestaltung halt macht, sondern am Tastsinn, am Körpergefühl orientiert bleibt, wodurch der Körper als ein ständig sich in Bewegung befindendes Ge­samtsystem erlebt wird.

Dass Mathias Lanfer Bewegung in die Plastik bringt und deren Einfluß auf den Viskositäts­drang der Materie in plastischen Stills einfriert, hat seinen Erfahrungsursprung möglicherwei­se auch in der Tatsache, das er in seiner Ju­gend lange Jahre intensiver Erfahrungen mit Bewegungsmustern und Choreographien als Bodenturner gemacht hat, die ihn bis zum Vi­zejuniorenmeistertitel gebracht haben.

Offensichtlich hat Mathias Lanfer ein Gespür für Bewegungsimpulse, die er nun nicht mehr als disziplinierter Körper, sondern in diszipli­nierten Körpern vorführt und plastisch wirk­sam werden lässt.

 

Dirk Tölke